Nur zwei kleine Buchstaben?

Eine Reportage über eine angemessene Versorgung dementer Patienten in Krankenhäusern. In einigen Modellen werden neue, umfassende Konzepte getestet, die zum Beispiel Geriatrie und Chirurgie auf einer Krankenstation vereinen, um demente Patienten bei entsprechenden Verletzungen besser betreuen zu können. Eine tolle und sicher auch notwendige Entwicklung, keine Frage.
Doch meine Aufmerksamkeit bleibt an einer scheinbaren Randbemerkung hängen. Als es darum geht, wie gerade demente Patienten möglichst früh nach einer Operation wieder mobil werden können, erläutert eine Physiotherapeutin, dass die Operierten meist schon im Laufe des folgenden Tages in ihrem Bett beübt würden. Ja, ganz richtig beübt. Ich werde stutzig. Nicht nur, dass die Rechtschreibprüfung meines PCs mit diesem Präfix nichts anfangen kann, mir selbst erscheint es auch schleierhaft, wie diese passive Wendung zu einer Tätigkeit wie „üben“ passen soll. Sicherlich ist frühe Mobilisation nach heutigem Erkenntnisstand der Medizin nichts Schlechtes. Aber ist die Entscheidung zu üben nicht etwas zutiefst Subjektives? Ich höre noch meine Mutter: „Hast du schon die Vokabeln geübt?“. Oder meinen Klavierlehrer verzweifeln, wenn ich wieder mal nicht die Fingerübungen geübt hatte. Hätten sie vielleicht auch lieber gleich selbst zur Tat schreiten sollen und anstatt zu klagen, mich einfach beüben sollen? Und wenn ja, wie hätte das ausgesehen? Wäre Mama mir laut rezitierend und buchstabierend mit dem Vokabelheft in den Garten oder zur Eisdiele gefolgt? Oder hätte Herr Hermann, mein Klavierlehrer, mir in Zusatzstunden jeden Finger einzeln auf die Tasten gelegt? – Eine gruselige Vorstellung, für alle Beteiligten. Es erinnert irgendwie an Gehirnwäsche-Szenarien.
Hier mögen einige vielleicht einwenden, dass dieses Beispiel hinkt, entstammt es doch einem privaten Umfeld, der Ausdruck des „Beübens“ bei der Physiotherapeutin zeige aber gerade ihre Professionalität an. Das mag stimmen. Dennoch läuft es mir kalt den Rücken hinunter, wenn im Zuge einer fortschreitenden Professionalisierung gerade im Bereich der sozialen Berufe solche vermeintlich politisch neutralen und korrekten Begriffe etabliert werden. Bei näherem Hinsehen vermitteln diese nämlich eine gewisse Fragwürdigkeit in Bezug auf die Freiheit der eigentlichen Akteure der Handlung (was nicht heißen soll, dass bewegungseingeschränkte Patienten keine Hilfe erfahren sollen).
Sicher wir alle sind mehr oder weniger unfreiwillig zur Schule gegangen, aber wie hört es sich an, wenn wir heute unsere Kinder beschulen (laut Duden: „mit Unterricht versorgen“) lassen? Ist nicht auch das wieder ein Ausdruck für die weitere Normierung und Optimierung des Humankapitals „Mensch“. Wie kann sich der einzelne einer solchen „Versorgung“ überhaupt noch entziehen? Die herrliche Freiheit, auch einmal faul zu sein, einmal nicht zu funktionieren, lieber zu spielen als Hausaufgaben zu machen oder den Nachmittagsunterricht an einem schönen Sommertag zu schwänzen, nicht mehr als Schwäche (oder auch „Charakterstärke“) des Kindes zu verstehen, sondern als Mangel im Beschulungs-Konzept? Wohin mit der alten Volksweisheit, der zufolge man nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen soll?
Gerade die Leistungschwächsten unserer Gesellschaft werden in mit Hilfe der neuen Fachtermini in Schablonen gepresst, die ihnen unmissverständlich zeigen sollen, wo ihr Weg hinzuführen hat, nämlich immer nur zu „ihrem Besten“, gleich ob sie dorthin gehen wollen oder nicht. So werden nicht nur Schüler beschult, sondern eben auch Patienten beübt und pflegebedürftigen Senioren ihre Mahlzeiten eingegeben (füttern erinnere zu stark an Tierhaltung). Eingegeben wie Passwörter in den Computer in Erwartung dessen, was er daraufhin wohl ausspucken wird. Dass eine solche Fachsprache zwar korrekt, menschlich aber zutiefst verstörend sein kann, zeigt sich nur allzu oft in der Praxis. Nämlich dann wenn die zu bearbeitenden Zielpersonen mit diesen einmal in Berührung kommen und schlicht die Welt nicht mehr verstehen.
Vielleicht fallen die zwei kleinen Buchstaben auch deshalb im zwischenmenschlichen Kontakt meistens (noch) unter den Tisch. „Guten Morgen Frau Maier, ich bin hier, um heute mit Ihnen zu üben.“, klingt immer noch einladender als „Guten Tag Herr Schulze, ich werde sie jetzt beüben.“ Wir sind schließlich noch nicht total bescheuert.

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