Göttin der Wut

Gestern morgen in der Yogainsel. Seit langem schien mal wieder die Sonne mit all ihrer Kraft. Wir Schülerinnen saßen erwartungsvoll im Schneidersitz auf unseren Matten und übten ein Kali-Mantra. Wie sich herausstellen sollte, genau der richtige Energie-Schub für kleine Wutküken. Hätten diese eine Religion, der sie anhängen würden, sie wären sicher kleine (aber nicht die kleinsten) „Kali-Jünger“.

Ok, im Hinduismus ist Kali die Göttin der Wut, der Zerstörung und des Todes und das klingt erst einmal nicht sehr attraktiv. Auch ihre Ikonographie sieht alles andere als einladend aus, mit ihrer Totenkopfkette um den Hals und der zur Fratze herausgestreckten Zunge. Aber vielen gilt sie dennoch wie eine Mutter, denn sie verkörpert keine blinde, sondern eine gerechte Wut. Die Kinder, die sie mit ihrem Mann Shiva hat, verteidigt sie wie eine Löwin und auch den Menschen steht sie im Kampf gegen die Mächte der Dämonen und die ihnen widerfahrenden Ungerechtigkeiten zur Seite. Ihre Mittel sind dabei voll weiblicher Raffinesse. Merkt sie, dass sie ihren feindlichen Mächten unterlegen ist, fährt sie einfach ihre Zunge aus und verschlingt diese. Was sie nicht besiegen kann, nimmt sie in sich auf und macht es so zu einem Teil von sich. Sie ist also eine sehr „menschliche“ Göttin, eine, die an ihren Erfahrungen wächst. Auch ihre destruktive Seite ist nicht bloße, blinde Zerstörung. Kali ist die Verkörperung von Kala, der Zeit, wo etwas vergeht, entsteht etwas Neues. Tod und Geburt gehören zusammen. So steht sie weniger für den Untergang als für den Neubeginn.

Mancher mag dies vielleicht für eine abgedroschene Alltags- und Lebensweisheit halten. Ich finde das Bild jedoch sehr inspirierend: eine Göttin, die all dem Übel, das sie bedroht, einfach die Zunge herausstreckt, denn sie weiß: auch dies ist vergänglich.

Vielleicht sollte man es wirklich einmal versuchen und nicht nur in der Yogastunde: Den Belastungen und Provokationen des Alltags einfach mal die Zunge rausstrecken und sie dann dankbar in den eigenen Erfahrungsschatz aufnehmen, abhaken und zu Neuem übergehen.

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